AMNOG 2025 – aktuelle Handlungsfelder
Das AMNOG ist ein Markenzeichen des deutschen Pharmastandorts. Der medizinische Fortschritt schreitet jedoch rasant voran. Daher müssen wir heute schon Änderungen vornehmen, damit auch neuartige Therapieansätze den Patient:innen in Deutschland zur Verfügung stehen. Gleichzeitig muss der neue Prozess der europäischen Nutzenbewertung, der ab 2025 startet, sinnvoll in das deutsche Regelwerk integriert werden. In diesem Papier wird gezeigt, wie sinnvolle Maßnahmen zur langfristigen Stabilisierung und Modernisierung aussehen könnten und warum die jüngste Gesetzgebung das bestehende System in Schieflage bringt.
Markenzeichen „AMNOG“
Positionspapier
Hier gibt es das Positionspapier "AMNOG 2025 – aktuelle Handlungsfelder" als PDF-Download.
Mit dem AMNOG (“Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz”) wurde 2011 in Deutschland ein Verfahren der nutzenbasierten Preisbildung eingeführt. Alle Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen durchlaufen seitdem das AMNOG-Verfahren mit Nutzenbewertung und Preisverhandlung.
Pharmazeutische Hersteller vereinbaren mit dem GKV-Spitzenverband Erstattungsbeträge für neue Arzneimittel auf Basis einer detaillierten Zusatznutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesaus- schusses (G-BA). Dabei galt bislang der Leitsatz: Die gesetzlichen Krankenkassen sollten nur dann mehr zahlen, wenn der G-BA eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Standardtherapie festgestellt hat. Wenn dies nicht der Fall war, galt die vom G-BA festgelegte Vergleichstherapie in der Regel als Preisobergrenze. In den seltenen Fällen, in denen sich die Verhandlungspartner nicht auf einen Erstattungsbetrag einigen konnten, setzte diesen die AMNOG-Schiedsstelle fest.
Das AMNOG leistet so seit über zwölf Jahren, was die Politik von ihm erwartet: Es sorgt für Milliardeneinsparungen für die Solidargemeinschaft der Versicherten und setzt zugleich Anreize für eine schnelle Markteinführung und hohe Verfügbarkeit von innovativen Arzneimitteln für die Patient:innen. Hier war Deutschland bis zuletzt führend in Europa.
Aktuelle Situation
Gen- und Zelltherapien, zielgerichtet bei kleinen, spezifischen Patientenpopulationen wirkende Arzneimittel und die mRNA-Technologie stehen für eine neue Ära der Präzisionsmedizin, bei der die klassischen Pfade der Evidenzgenerierung an Grenzen stoßen. Dies stellt Deutschland vor die Herausforderung, das AMNOG-Regelwerk der Nutzenbewertung und Preisverhandlung an die Weiterentwicklung in der Medizin anzupassen. Für solche neuartigen Therapien braucht es ein offeneres und flexibleres AMNOG – die bisherige
„Lernkurve“ des Systems verläuft hier zu flach.
Hinzu kommt der Anpassungsbedarf, den die Umsetzung der europäischen Health Technology Assessment (HTA)-Verordnung für das AMNOG mit sich bringt. Ab 2025 sollen neue Arzneimittel in einem Mehrstufenmodell ein europäisches klinisches Bewertungsverfahren durchlaufen. Die in Deutschland geltenden Prozesse und Methoden müssen dementsprechend „europatauglich“ gemacht werden. Dabei sollten die Prozesse “Hand- in-Hand" laufen und zusätzliche Aufwände, die gegebenenfalls gar zu Verzögerungen im Marktzugang führen, vermieden werden.
Jüngste Gesetzgebung
Pharmazeutische Industrie und viele Experten warnen vor den mittel- und langfristigen Konsequenzen der jüngsten Gesetzgebung. Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) wurden die Preisfindungsregeln für neue Arzneimittel tiefgreifend verändert. Der Gesetzgeber konstruierte ein starres Korsett von Vorgaben für die Erstattungsbetragsverhandlungen, die den Zusatznutzenbeschluss des G-BA entwerten und das Prinzip der nutzenbasierten Preisfindung untergraben. Ein im Vergleich zur Standardtherapie besseres Arzneimittel erhält so nicht mehr unbedingt einen höheren Preis. Zudem wurden pauschale Preisabschläge für Kombinationstherapien on top gesetzt.
Diese strukturellen Eingriffe haben das AMNOG-Verfahren in eine gefährliche Schieflage gebracht. Sie beeinträchtigen bereits wenige Monate nach Inkrafttreten die Verfügbarkeit neuer Therapien in Deutschland und sind das Gegenteil einer nachhaltigen Standortpolitik für forschende Pharmaunternehmen.
Handlungsfelder
Mit den vorliegenden Vorschlägen möchte der vfa einen konstruktiven Beitrag zur aktuellen Reformdebatte leisten und eine notwendige Modernisierung des AMNOG nachdrücklich unterstützen. Folgende Vorschläge werden zur Diskussion gestellt(1) :
1. Stärkung des „AMNOG-Prinzips“
Das Kernprinzip der nutzenbasierten Preisfindung für innovative Arzneimittel war stets: Ein Preis über der bisherigen Standardtherapie ist gerechtfertigt, wenn die neue Behandlungsmethode eine Verbesserung darstellt. Diese Logik ist vom Gesetzgeber zuletzt mit den neuen Vorgaben für Erstattungsbeträge (sog. „Leitplanken“) ausgehebelt worden. Wichtige patientenrelevante Therapieverbesserungen dürfen in den Verhandlungen zum Erstattungsbetrag zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband in eine Reihe von Fällen nicht mehr anerkannt werden. In vielen Therapiegebieten, auch bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 oder bei psychischen Erkrankungen, können die „Leitplanken“ eine kontraproduktive Wirkung entfalten. Durch das neue Verhandlungskorsett wird den Verhandlungspartnern und der Schiedsstelle die bisherige Möglichkeit genommen, besondere Versorgungssituationen oder Limitationen der AMNOG-Nutzenbewertungsmethodik bei der Preisbildung zu berücksichtigen und Medikamente als notwendige Therapiealternativen im Markt zu halten.
Auch der eingeführte Kombinationsabschlag untergräbt dieses Prinzip. Er verschärft den Preisdruck für viele innovative Medikamente immens. Obwohl Einsatz und Kosten von freien Kombinationen neuer Arzneimittel bereits in der Preisverhandlung der Medikamente berücksichtigt werden, soll nun ein weiterer pauschaler Rabatt in Höhe von 20 Prozent an die Krankenkassen gezahlt werden. Eine politische Kurskorrektur ist auch hier dringend erforderlich.
Der vfa schlägt vor, das Verhandlungsprinzip des AMNOG zu stärken. Die Verhandlungspartner brauchen den nötigen Spielraum, um therapeutische Verbesserungen anzuerkennen und die jeweilige Marktsituation zu berücksichtigen. Systemfremde Elemente, wie starre „Leitplanken“ oder zusätzliche pauschale Abschläge, schränken diesen Freiraum ein und sind daher wieder aus dem gesetzlichen Regelwerk herauszunehmen.
2. Anerkennung besonderer Therapiesituationen
Neue Therapien werden zunehmend zielgerichteter. Der wissenschaftliche Fortschritt wird damit zu einer Herausforderung für die Nutzenbewertung, denn die Gruppe der mit einer Therapie behandelbaren Patient:innen wird kleiner. Klassische randomisiert-kontrollierte Studien (RCT) für größere Patientenpopulationen, die auch weiterhin als Standard gelten, können bei einigen neuen Therapieansätzen praktisch nicht durchgeführt werden. Die Forschung setzt dann auf andere Studienkonzepte, und auch die Zulassungsbehörden stellen sich seit Jahren dieser Entwicklung. Im Fokus steht dabei eine situative, einzelfallgerechte Abwägung, was jeweils adäquate Studiendesigns sind. In der AMNOG-Nutzenbewertung werden hingegen nur klassische RCTs regelhaft als Bewertungsgrundlage akzeptiert. Eine Berücksichtigung der Besonderheiten von Therapiesituationen findet kaum statt. Es droht eine zunehmende Abkopplung der Versorgung in Deutschland vom wissenschaftlichen Fortschritt in der Medizin. Dies ist nicht sachgerecht.
Der vfa schlägt vor, die Bewertungskriterien des AMNOG „fitter“ für den medizinischen Fortschritt zu machen. Besonderheiten von Therapiesituationen sollten besser berücksichtigt werden, um Studiendesigns und -ergebnisse zu beurteilen. Dies ermöglicht eine einzelfallgerechte Bewertung und Berücksichtigung des Zusatznutzens. Gerade bei besonderen Therapiesituationen darf es nicht zu einer kategorischen Ablehnung von Evidenz kommen. Vielmehr sollte gemeinsam definiert werden, wie die verfügbare Evidenz im Rahmen der Nutzenbewertung bestmöglich genutzt werden kann.
3. Freiraum für neue Vertragsmodelle
Erfolgsabhängige Erstattungsmodelle („pay-for- performance“) sind aktuell im Rahmen der Erstattungsbetragsverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband nur schwer umsetzbar. In der Praxis spielen solche Modelle in Deutschland bislang keine große Rolle. Im Gegensatz zu starren Vorgaben können auch flexible Lösungen zu Einsparungen im Gesundheitssystem führen, ohne jedoch die Versorgung zu gefährden.
Der vfa schlägt vor, den gesetzlichen Rahmen zu erweitern und die gesetzlichen Grundlagen für die Umsetzung solcher Modelle zu schaffen. Bei besonderen Therapiesituationen mit begründbar limitierter Evidenz, so bspw. auch im Falle potenziell kurativer Einmaltherapien, sollten den Vertragspartnern mehr Spielräume zur Vergütungsgestaltung zur Verfügung stehen als das traditionelle Normengerüst, das das Sozialgesetzbuch derzeit hergibt (insb. § 130b SGB V). In diesem Zusammenhang ist auch sicherzustellen, dass die verschiedenen Modelle adäquat im Rahmen des Finanzausgleichssystems der Krankenkassen (Morbi-RSA) abgebildet werden.
4. Förderung therapeutischer Solisten
In Therapiesituationen, in denen bislang keine ausreichende Behandlungsmöglichkeit existiert, ist jede neue therapeutische Option von hoher Bedeutung für die Patientenversorgung. Dies gilt zum Beispiel für die Behandlung von sogenannten seltenen Erkrankungen oder für onkologische Patienten, nach Versagen bisher vorhandener Therapien in spezifischen Indikationen.
Dass diese Arzneimittel einen besonderen Stellenwert haben, hat auch das Bundessozialgericht im Februar 2023 anerkannt. Der Gesetzgeber hat aus versorgungspolitischen Erwägungen bereits Sonderbestimmungen für Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden sowie für Reserveantibiotika im AMNOG etabliert. Durch die gesetzliche Feststellung eines Zusatznutzens wird der Prozess der Nutzenbewertung für sie vereinfacht.
Der vfa schlägt vor, den Zugang zu therapeutischen Optionen in diesen besonderen Bereichen weiter zu fördern. Über die bisherigen Vorgaben hinaus sollte allen neuen Therapien, die eine Situation ohne ausreichende Behandlungsmöglichkeit abdecken und die mit positiven klinischen Studien bereits eine Verbesserung der Behandlungssituation nachgewiesen haben, per se ein Zusatznutzen zuerkannt werden. Sie würden dann unter diesen Ausgangsbedingungen im AMNOG preisreguliert.
5. Vorfahrt für die europäische Nutzenbewertung
Die europäische Nutzenbewertung wird ab dem 12. Januar 2025 für die ersten Produkte starten, darunter Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) und onkologische Arzneimittel. Dadurch soll der Zugang zu innovativen Therapien in Europa verbessert, der Bearbeitungsaufwand für Unternehmen und nationale HTA-Behörden verringert und die Qualität der klinischen Bewertung EU-weit gestärkt werden. Die effiziente Zusammenarbeit auf europäischer Ebene soll Europa auch als erfolgreichen Biotechnologie-Standort stärken und erhalten. Zur Erreichung dieser Ziele sind klare Vorfahrtsregeln für die Ergebnisse der europäischen klinischen Bewertung im AMNOG notwendig.
Der vfa schlägt vor, eine verpflichtende Berücksichtigung der gemeinsamen europäischen Arbeitsergebnisse im nationalen Prozess festzulegen. Dies dient der Vermeidung von Doppelarbeit und widersprüchlichen Bewertungen, welche zusätzlichen Aufwand erfordern, aber auch zu Irritationen bei Patient:nnen führen. Darüber hinaus müssen die nationalen Prozesse reibungslos an die europäischen Vorarbeiten anschließen, ohne den schnellen Marktzugang in Deutschland zu verzögern. Die ausreichende Beteiligung bzw. Beratung der pharmazeutischen Unternehmer an der kritischen Schnittstelle dieser Prozesse muss über neue Festlegungen sichergestellt werden.
Fazit
Um den Erfolg des AMNOG langfristig zu sichern, zeigt sich dringender Bedarf, einzelne Vorgaben und Verfahren an die neuen Herausforderungen anzupassen. Die forschenden Pharmaunternehmen stehen für einen konstruktiven Dialog zu diesen Handlungsfeldern gerne bereit.
Quellenangaben
(1) In einem vfa-Hintergrundpapier, das unter Moderation von Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, und Timm Volmer, Smartstep Consulting, erarbeitet worden ist, werden die Vorschläge ausführlicher dargestellt.